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Familienforschung / Orte / Frankenhausen
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Die nachstehende zeitgeschichtliche Darstellung stammt
von Bettina Meister, die sie im Rahmen ihrer Familienforschung zur Verdeutlichung
der Lebensumstände um 1900 verfasste. Für den genealogisch Interessierten
enthält sie Hinweise zu Auguste Becker, NN. Hesse, Hermann Ritzenhoff
und Wilhelm Schall.
Das Wilhelmstift in Bad Frankenhausen
Das Wilhelmstift in Bad Frankenhausen (damals noch ohne Bad) wurde durch
eine großzügige Geldspende des Bad Frankenhausener Bürgers Wilhelm Schall
erst möglich gemacht. Gegründet wurde es als eine mildtätige Stiftung,
die "der Erziehung sittlich verwahrloster oder gefährdeter Kinder"
dienen sollte. Da es bis dahin kein geeignetes Haus gab, ließ sich Wilhelm
Schall durch die Regierung des Fürstentums Schwarzburg-Rudolstadt zu der
Stiftung von 100.000 Reichsmark bewegen. Frankenhausen gehörte damals
als sogenannte Unterherrschaft zu dem thüringischen Fürstentum.
Bis
zur Eröffnung des Wilhelmstiftes hatte man in der Region keine eigenen
Einrichtungen gehabt, und die gefährdeten Kinder nach Sachsen bringen
müssen, um sie dort zu versorgen.
Nachdem am 17.5.1894 die Stiftung ins Leben gerufen worden war, wurde
am 19. November 1894 der Grundstein für das sogenannte "Rettungshaus
für sittlich verwahrloste oder gefährdete Kinder" gelegt.
Der Bau ging schnell voran und bereits am 07.01.1896 konnte das "Rettungshaus
Wilhelmstift" eingeweiht werden. [In einer Zeitungsanzeige hatte der Haus-Vorstand
des Wilhelmstifts Hesse "diejenigen, welche ein Interesse an dieser
Arbeit haben", zur Einweihung eingeladen. PT]
Die Festschrift zum 100jährigen Bestehen des Wilhelmstifts [*], die 1996
von der Ev. Kinder- und Jugendhilfe Wilhelmstift herausgegeben wurde (und
Quelle für viele Informationen zum Wilhelmstift ist), schildert das Haus
wie folgt:
"In Ziegelsteinrohbau ausgeführt, barg die Anstalt im Souterrain den
Maschinenraum der Zentralheizung, Kohlen- und Holzgelaß, die schöne
geräumige Küche mit großem, stattlichem Herd usw., die Waschküche, die
Badestube und eine Arbeitsstube für die Kinder.
Im ersten Geschoß befanden sich im Mittelbau der Andachts- und Speisesaal,
die Wohnräume der Hauseltern, Konferenz- und Klassenzimmer, während
die Räume dieses Geschosses im Seitenflügel rechts und links die Wohn-
und Arbeitsräume für die Kinder enthielten. Im Obergeschoß waren im
Mittelbau die Lehrräume, ferner die Fremden-, Kranken- und Garderobenzimmer.
In den Seitenflügeln rechts lag der Schlafsaal der Knaben, links der
der Mädchen.
Im Hof waren Wirtschaftsräume, wie Kuh- und Schweinestallungen. Außerdem
gehörten zu dem Grundstück mittlerweile 11 Morgen Ackerbesitz, der teils
an den Bauplatz angrenzt, teils in der Nähe desselben lag. Hier erlernten
die Zöglinge den Land- und Gartenbau, indem sie angehalten wurden, diese
Plätze und Planstücke selbst zu bearbeiten."
Genau dort waren vom Sommer bis in den Herbst hinein die Jungen beschäftigt.
Im Garten und auf den Ländereien, die zum Haus gehörten, sollten sie landwirtschaftliche
Kenntnisse erwerben, die ihnen später eine berufliche Perspektive bieten
sollten. Daneben lernten sie Nähen, Flicken und Stricken. Eine Schuhmacherei
wurde im ersten Jahr eingerichtet, ebenso gab es eine Stroh- und Korbflechterei.
Währenddessen hatten die Mädchen die Hausmutter bei ihrer täglichen Arbeit
zu unterstützen, die in der Haushaltsführung bestand. Sie arbeiteten in
der Küche und der Waschküche, lernten zudem Nähen und Kenntnisse im Führen
einer Küche.
Der Hausvater Ritzenhoff unterrichtete gemeinsam mit einem Gehilfen, der
die kleineren Kinder in einem eigenen Schulzimmer unterrichtete, die Bewohner
des Hauses selbst.
Aus dem Jahr 1900 wird berichtet, dass ein 16jähriges Mädchen,
das im
Wilhelmstift lebte, dreimal Feuer gelegt hatte, vermutlich um dafür
zu
sorgen, dass sie aus dem Heim entlassen wurde. Im Wilhelmstift brach an
zwei aufeinander folgenden Tagen, am 01. und 02. Oktober 1900 jeweils
ein Großfeuer aus, bei dem das Hauptgebäude stark beschädigt
wurde und ein Stall komplett niederbrannte.
Das Wilhelmstift wurde - dank weiterer Zuwendungen von Wilhelm Schall
- in den kommenden Jahren erweitert. Schließlich starb der Gründer Wilhelm
Schall im Jahr 1916, ein zweifelsohne großer Einschnitt für das Stift
- und die ganze Stadt Frankenhausen. Der Großkaufmann, Bankinhaber und
Besitzer großer Ländereien hatte in vielfacher Weise mit seinem Geld in
Frankenhausen Gutes getan: Altenheim, Neubau von Kirchen, Krankenhaus,
Pfarrhäuser, Kinderheilanstalt ...
Das Wilhelmstift diente lange als Heim, teilweise für schulentlassene
männliche Jugendliche, dann als Pflegeheim für körperlich und geistig
Behinderte. 1941 wurde das Haus geschlossen und an eine Rüstungsfirma
verkauft, die dort Munition für die Flugzeugindustrie fertigte. Was genau
mit den damals noch im Heim lebenden Bewohnern geschah, ist unbekannt.
Man weiß nur, dass sie bei Nacht abtransportiert wurden.
Heute gehört das Wilhelmstift zur Inneren Mission des Diakonischen Werkes
und ist eine Kinder- und Jugendhilfeeinrichtung.
Erste Hauseltern des Wilhelmstifts waren Hermann Ritzenhoff
und seine Frau Auguste Becker. Die beiden hatten selbst Erfahrungen mit
Heimen gemacht. [...] So wußten sie was es heißt, in einem Heim
zu leben, und die Jahresberichte verschiedener Jahre bescheinigen den beiden
- hoffentlich zu Recht - dass sie gute Arbeit geleistet hätten.
Heutzutage klingt die Beschreibung der Unterbringung und Aufgaben der
Kinder und Jugendlichen nicht sonderlich "pädagogisch wertvoll",
und sicher würde es mir bei vielem einen Schauer den Rücken
hinunter schicken. Für damalige Zeiten jedoch scheint das Heim erstaunlich
weit mit seinem pädagogischen Konzept gewesen zu sein.
© Bettina Meister, Kassel im Dezember 2004
[*] Festschrift zum 100jährigen Bestehen des Wilhelmstifts, hrsg.
von der ev. Kinder- und Jugendhilfe Wilhelmstift, Bad Frankenhausen 1996.
Die Genehmigung der Stiftungsgründung durch Fürst Schwarzburg-Rudolstadt
ist ebenfalls dieser Schrift entnommen.
Die mit Archivalien illustrierte Originaldarstellung der Autorin finden
Sie unter
http://www.ahnen.bettina-meister.de/fotogalerie/wilhelmstift.html
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