Das Chirurgenhandwerk |
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Seit dem Mittelalter, hier im Jahre 1215, bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts
wurde in der Medizin strikt zwischen inneren und äußeren Krankheiten und
damit zwischen Innerer Medizin und praktischer Chirurgie unterschieden.
Die praktische oder niedere Chirurgie wurde durch die in Zünften zusammengeschlossenen
Handwerkschirurgen ausgeführt. Je nach regionaler Ausprägung waren dies
die Barbiere, Bader und Wundärzte.
In seiner Dissertation über die niedere Chirurgie [1] gibt Oliver Bergmeier
folgende Herleitung des in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts bestehenden
Zustandes:
Um 1200 gehörten viele Heilkundige dem geistlichen Stande an. Das 4.
Laterankonzil 1215 untersagte den Priestern endgültig die Ausübung chirurgischer
Eingriffe. Grund war eine Logikkette, die Chirurgie mit der Möglichkeit
eines tödlichen Ausgangs verknüpfte, damit also der Schuld am Tode eines
Menschen, die wiederum die Untauglichkeit zum Priesteramt zur Folge hatte.
Gleichzeitig hatte sich unter Medizinern die Meinung durchgesetzt, dass
die Behandlung äußerer Krankheiten sie entehre, was Wolfgang Michel
[2] formulieren ließ: „Denn ob ihrer Gelahrtheit mochten sich
die Herren die Finger nicht besudeln.“ Die Folge war:
„Für die ‚niederen’, oft unangenehmen Tätigkeiten - wie Amputationen,
die Versorgung oft überriechender Wunden, Klistiersetzen, Aderlassen
- bildeten die akademisch ausgebildeten Ärzte nunmehr Gehilfen heran,
die dann im Laufe der Zeit als zunftmäßig organisierte und handwerklich
ausgebildete Chirurgen, die seit dem 18. Jahrhundert auch als Wundärzte
bezeichnet wurden, eigenständig ihrem Heilberuf nachgingen.“ [3]
In Nord- und Mitteldeutschland wurden diese Tätigkeiten durch die Chirurgen
innerhalb der Zunft der Barbiere ausgeübt. Diese konnte regional unterschiedlich,
z.B. auch als Barbier- und Chirurgenzunft, Innung der Chirurgen und Barbiere
oder Barbier- und Chirurgenamt bezeichnet werden. Neben diesem handwerklichen
Chirurgen, der „bürgerliche Nahrung“
[4] trieb und damit dem Stand der Bürgerschaft einer Stadt
angehörte, gab es seit dem 18. Jahrhundert als zweiten medizinischen Beruf
den Physicus, der an der Universität vor allem die wissenschaftliche Theorie
kennen gelernt hatte, und mit einem akademischen Abschlussexamen als Lizenziat
oder Doktor ständisch dem niederen Adel bzw. Klerus gleichgestellt war [5] . Für die Chirurgen
der Barbierzunft war es immer problematisch, aber deshalb auch wichtig,
sich von anderen handwerklichen Medizinern abzugrenzen, die - häufig auf
Märkten - als Gaukler, Zahnbrecher, Bruch- und Steinschneider und Starstecher
auf dem selben Feld arbeiteten. So wie deren häufige Misserfolge zum schlechten
Ruf der des Chirurgie beitrugen waren es außerdem die herumziehenden und
auf Jahrmärkten auftretenden sogenannten „Kurpfuscher“ und „Quacksalber“ [6] . Auch Bader, Feldscher, Salbenmänner, alte Weiber,
Muhmen und andere weise Frauen, nicht zu vergessen die Apotheker, Materialisten,
Wasserbrenner, Theriakhändler und mit Heilmitteln schachernde Kleinkrämer
gehörten zur Konkurrenz
[7] .
Einen Entwicklungsschub für die Chirurgie brachten die der Französischen
Revolution folgenden napoleonischen Kriege, insbesondere für die Tätigkeit
der Feldscher, jener Chirurgen, die die massenhaften Kriegsverletzungen
versorgen mussten und damit natürlich auch ein zwar makabres aber großes
Übungsfeld hatten. Vorlesungen und Lehrveranstaltungen an Universtät oder
Hochschulen waren in der Ausbildung der Chirurgen im Normalfall nicht
vorgesehen. Dort, wo sie angeboten wurden, z.B. an der Universität Halle,
konnten sie natürlich von wissbegierigen Chirurgieschülern freiwillig
besucht werden.
Wie Preußen in Deutschland auf vielen Gebieten Vorreiter war, so spielte
es diese Rolle auch in der Weiterentwicklung der Chirurgie. Hier „standen
die Bader und Barbiere, wie das gesamte Heilpersonal, unter der Aufsicht
des „Collegium medicum“ [...]. Das Oberkolleg [seit 1725] bestand aus
einem Staatsminister als Vorsitzenden, den Leib- und Hofärzten, dem Physikus,
den ältesten Praktikern in Berlin, dem Leib- und Generalchirurg, Hofapotheker
sowie drei Chirurgen [...]“ [8]
Anfang des 19. Jahrhunderts brachte die neue preußische Gewerbegesetzgebung
auch für das Medizinalwesen wichtige Veränderungen. Denn im Jahre 1811
wurden die Zünfte aufgehoben und die Ausübung der Chirurgie
vom Barbiergewerbe getrennt. Mit dieser Entscheidung konnte sich die
Chirurgie unabhängig vom Barbier-/Friseurgewerbe weiterentwickeln. Trotzdem
gab es aber auch in Preußen weiter große Qualitätsgefälle und noch einen
deutlichen Unterschied in der ärztlichen Versorgung zwischen Stadt- und
Land. Denn die Meisterprüfungen wurden in der Weise unterschieden, dass
sich ein Wundarzt mit Niederlassungswunsch in einer preußischen Stadt
einer Prüfung durch das Collegium medicum in Berlin unterziehen musste,
bei Niederlassung in einem Dorf jedoch nur eine Prüfung beim Kreisphysikus
verlangt wurde. [9] Viele Chirurgen auf dem Land sollen
übrigens nebenberuflich Land- oder Gastwirt gewesen sein [10]
1818 wurde die Niederlassungsfreiheit für Heilpersonen eingeführt. 1822
wurde in Münster die erste chirurgische Lehranstalt gegründet. Nach Breslau
und Magdeburg folgte 1831 Greifswald. Zahlreiche Medizinal- und Gewerbeordnungen
(zuletzt 1825) versuchten das Gesundheitswesen zu ordnen. „Bestimmungen
über die Eintheilung und die Prüfung des ärztlichen und wundärztlichen
Personals“ ersetzten nun mit detaillierten Prüfungsbestimmungen für das
gesamte Heilpersonal die alte Einteilung in die höher qualifizierten Stadt-
und die schlechter qualifizierten Landärzte durch die neuen Gruppen eines
Wundarztes I. Klasse und II. Klasse. Die Wundärzte I. Klasse hatten an
den chirurgischen Lehranstalten eine dreijährige “halbakademische“ sowohl
medizinisch als auch chirurgisch ausgerichtete Ausbildung zu absolvieren. [11]
Im Jahr 1852 wurde diese bisherige Differenzierung des Heilpersonals durch
eine neue Medizinalordnung aufgehoben. „Die jetzt ausschließlich akademisch
ausgebildeten Ärzte führten von nun an den Titel „Praktischer Arzt, Wundarzt
und Geburtshelfer“. Die vor dem Jahre 1852 approbierten Wundärzte I. und
II. Klasse behielten bis zu ihrem Tode ihre Berufsbefugnisse; allerdings
verringerte sich ihre Zahl in der Folgezeit rasch.“ [12]
Die Entwicklung in Preußen war auch eine Reaktion auf deutliche Fortschritte
in der Chirurgie und das Bemühen, die Gesamtheit der Ärzte besser zu qualifizieren.
Sie führte schließlich zum Verschwinden der bisherigen Handwerkschirurgen.
Dieser Umbruch konnte auch in den weniger modernen deutschen Staaten nicht
ohne Folgen bleiben.
Kapitel 1 von Chirurgen & Barbiere (Peter Teuthorn August 2003)
Der gesamte Artikel ist als pdf-Datei verfügbar. |
[1] Oliver Bergmeier: Die sogenannte „niedere Chirurgie“ unter besonderer Berücksichtigung der Stadt Halle an der Saale in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, Diss. elektronisches Dokument ULB Sachsen-Anhalt, Uni Halle-Wittenberg 11/2003.
[2] Wolfgang Michel: Leipziger Fehlgriffe - Zum Konflikt zwischen Badern und Barbieren im 17. Jahrhundert , in Genbun Ronkyû (Studies in Language and Literature), No. 6 (Fukoka, March 1995), pp. 105-110.
[3] Bergmeier, S. 1.
[4] Bürgerliche Berufsausübung in der Stadt
[5] Bergmeier, S. 8.
[6] ders. S.8-9.
[7] Michel, Fehlgriffe, S. 105.
[8] Bergmeier, S.12-13.
[9] ders. S. 14.
[10] ders. S. 14
[11] ders. S. 27.
[12] ders. S. 3.
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